Mark Terkessidis – NATIONALE TURBULENZEN. UNROMANTISCHE BETRACHTUNGEN ÜBER POSTMIGRANTISCHE URBANITÄT UND KUNSTPRODUKTION

Am 28. Mai erschien bei Gestalten die offiziellen Begleitpublikation zum Beitrag des deutschen Pavillons auf der Biennale di Venezia 2013. Hier können Sie Mark Terkessidis’ Gedanken aus dem Vorwort der Publikation zur Aussagefähigkeit des Konstrukts der Identität lesen: Wie stehen sich im 21. Jahrhundert Fragen individueller Identifikation und Anforderungen an die Gestaltung von Vielheit gegenüber? Welche Sprache entwickeln die vier Künstler des deutschen Beitrags auf der Biennale di Venezia 2013 um die Pluralität einer Gesellschaft in Bewegung darzustellen?

Mark Terkessidis

Nationale Turbulenzen. Unromantische Betrachtungen über postmigrantische Urbanität und Kunstproduktion


Mein Sohn ist im Vorschulalter und wenn er sich Geschichten anhört oder ansieht, dann informiert er seine Umgebung zwischenzeitlich lautstark, welche der Figuren er jetzt gerade ist. Das kann während der Geschichte wechseln und wenn die Entscheidung zwischen mehreren gerade interessanten Personen schwer fällt, dann besetzt er eben mehrere Positionen zugleich: „Ich bin der und der…“. Spielen ganze Schwärme eine Rolle wie in Tiergeschichten, dann verkörpert er auch problemlos eine ganze Horde: „Also ich bin alle Kakerlaken“. Oft werden diese fortlaufenden Benachrichtigungen über den Stand der Identifikation begleitet von der abschließenden Frage: „Und wer bist Du?“

Für Erwachsene ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten. Während Kinder sich selbstverständlich multipel identifizieren, wird von Erwachsenen oftmals eine eindeutige Antwort erwartet: Identität. Dieser Begriff ist nicht mehr so allgegenwärtig wie in den 1990er Jahren, dennoch gehen die meisten Menschen davon aus, dass sie eine haben sollten. Das merkt man vor allem dann, wenn man Kritik an der theoretischen Aussagekraft des Begriffs formuliert oder schlicht bemerkt: Ich benötige keine Identität. Das stößt auf Unverständnis, insbesondere wenn die kulturelle, ethnische oder nationale Identität auf der Agenda steht; interessanterweise sogar in den avancierten kulturkritischen Kreisen.

Geht es um die Themen Globalisierung, Einwanderung und Diversität, könnte man für die Kulturkritik ähnlich argumentieren wie Michel Foucault es einmal für die politische Theorie getan hat – der Kopf des Königs, meinte er, sei darin noch nicht gefallen. In der Kulturkritik ist jener Kopf das Konzept der kulturellen Identität. Auf Konferenzen oder bei Kunstevents sind sich gewöhnlich alle Beteiligten einig, so etwas wie abgeschlossene Kulturen könne es nicht geben. Allerdings zeigt sich in den dann folgenden, häufig recht simplen Ausführungen über „Einflüsse“ und Vermischungen, dass die zuvor noch kritisierten Vorstellungen von abgegrenzten Kulturen schnell wieder auftauchen. Alle Beschwörungen von multiplen und „hybriden“ Identitäten können kaum etwas daran ändern: allein die Verwendung des Begriffes Identität führt unwillkürlich zu einer Vergegenständlichung. Und wenn schließlich in zwangloser Atmosphäre Getränke gereicht werden und die Gespräche auf Alltagsniveau stattfinden, dann hört man oftmals auch schlichte Klischees von „wir“ und „ihnen“. Die Einwanderer bzw. die „Anderen“ haben „uns“ kulturell „bereichert“, heißt es etwa, machen und haben aber auch viele Probleme, weil sie sich der Integration verweigern.

Nach der Identität

Bereits 1997 hat Homi Bhabha die polemische Frage gestellt: „Post-this, post-that, but why never post-the-other?”[1] Die Bemerkung ist auch 15 Jahre später noch gültig. Seit Jahrzehnten wird in der Gesellschaft über Multikulturalismus, Diversität und Interkultur diskutiert. Die Kulturkritik befasst sich ebenso lange mit „französischer Theorie“, mit der „différence“ und dem „différend“, mit dem „Rhizom“ und dem „Werden“. Und in der globalisierten Kunst ist über postkoloniale Räume, „Poetiken der Beziehung“ und „radikante Ästhetik“ debattiert worden. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre hat Jean-François Lyotard sich über „Marie in Japan“ lustig gemacht: „Die Differenz, die Alterität, das Multikulturelle. Das ist ihr Dada“.[2] In diesem Sinne mögen manche Kritiker das alles schon gar mehr hören und glauben, die Sache mit der Globalisierung und der Diversität habe sich doch gerade in der Kunst erledigt. Was tatsächlich überholt erscheint, sind schlichte Verweigerungsgesten gegenüber dem Homogenen und eine Romantik der Überschreitung, des Diasporischen und des Nomadischen. Doch die Frage der Gestaltung der Vielheit steht im 21. Jahrhundert ganz oben auf der Agenda. Denn das fortgesetzte Gespräch über ein Thema, das „Dada“, sorgt keineswegs dafür, dass wir die besprochene Welt auch bewohnen.
Penetrant suchen uns die Gespenster der nationalen Klischees heim, sowie jene des Kulturkreisdenkens und der Ausgrenzung der „Anderen“. Zweifellos stehen diese Konzepte nicht mehr im Zentrum der Macht, aber auch als Gespenster können sie höchst schmerzhafte Wirkungen entfalten. Damit sind nicht nur die grassierenden Auswüchse eines Populismus gemeint, der sich in einer Art „utopisch-nostalgischen“ Wendung nach einer Vergangenheit sehnt, in der die nationale Zugehörigkeit angeblich noch etwas zählte. In einer qualitativen Studie fand der Ethnologe Jens Schneider für Deutschland heraus, das bei den „Eliten“ (Politiker, Kultur- und Medienschaffende etc.) ein traditioneller, äußerst oberflächlicher Begriff von „Deutsch-Sein“ aufrecht erhalten wird, der sich über Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ordnungsliebe einerseits und über quasi-romantische Ideen von „deutscher Tiefe“ anderseits definiert. Allerdings erweisen sich diese Selbstzuschreibungen als nicht kompatibel mit den eigenen, zunehmend globalisierten Alltagserfahrungen: Alle Beteiligten meinten, ja, so ist „Deutsch-sein“, aber ich als Deutscher bin so gar nicht.[3]

Das ist offenbar ein höchst paradoxer, „ver-rückter“ Zustand, der sich derzeit in fast allen europäischen Nationen beobachten lässt. Der nationalstaatliche Zusammenhang ist unter Druck – von „oben“, durch den zunehmenden Einfluss von Großorganisationen wie der Europäischen Union und die Macht der internationalen Märkte, von „unten“ durch Migration und Globalisierung des Alltags, aber auch von „innen“, durch die Ratlosigkeit seiner Bürger. Als in Frankreich der konservative Minister für „Immigration und nationale Identität“ Ende 2009 von der Bevölkerung in einer partizipativen Debatte wissen wollte, was der Zusatz „nationale Identität“ im Namen seines Ministeriums eigentlich bedeuten solle, da zeigten die Angesprochenen wenig Interesse und blieben die Antwort schuldig.

Neu Koordinaten für Kunst und Kultur

Was bedeutet das für Kunst und Kultur? Man könnte sagen: gerade die Kunst hat sich dieses Problems längst entledigt, sie ist in den letzten Jahrzehnten auf eine noch nie dagewesene Weise international, transnational und divers geworden. Ihre Protagonisten und das Publikum sind „nomadisch“, sie kommen von überall her und ziehen im Zickzack über die Biennalen des Globus. Allerdings läßt sich darauf erwidern: immer noch ist der ganz überwiegende Teil der Kunstinstitutionen auf die eine oder andere Weise am Nationalstaat orientiert – wie auch immer das Programm beschaffen sein mag. Und die „nomadischen“ Subjekte erweisen sich bei näherem Hinsehen fast durchweg als wohlhabend oder bildungsbürgerlich, sowohl auf der Seite der Kunstproduktion als auch der Konsumtion. Diese Personengruppe mag recht beweglich sein und sich in ihrer Zusammensetzung auch erweitert haben, doch ihre Lebensumstände und Netzwerke sind (und bleiben teilweise aktiv) homogen – man hat einen Freundeskreis, der kaum divers ist, lebt in Stadtvierteln, mit denen es sich ebenso verhält, und die Kinder besuchen Schulen, die vielleicht international sind, aber kaum die Vielfalt einer Einwanderungsgesellschaft abbilden.

Solche Paradoxien sind im Kulturbetrieb zum gegebenen Zeitpunkt auch kaum zu vermeiden – man könnte sie aber, sozusagen, entfalten. Eine Reihe von Institutionen haben begonnen, die eigenen Voraussetzungen zu befragen, um sich neu zu orientieren. Jüngst hat eine evaluierende Untersuchung der Londoner „Tate“ gezeigt, dass man dort in Sachen „Cultural Diversity“ eine ganze Reihe von Fehlern gemacht hat.[4] Im Großen und Ganzen wurden Sonderprogramme aufgelegt, im Bereich Bildung und mit ethnischem „Targeting“. Diese Programme wurden von den sogenannten Minderheitsangehörigen nicht nur nicht genutzt, sondern aktiv zurückgewiesen. Die betreffenden Personen sind weder interessiert an einer Repräsentation „ihrer“ ethnischen Identität noch an simplen „postkolonialen“ Revisionen der Kunstgeschichte im Sinne ihrer jeweiligen Herkunft, sondern schlicht an „more complex accounts of visual culture and meaning-making“.[5] Obwohl sich die Forschung und Kunst häufig mit den fluiden und performativen Aspekten von Ethnizität befasst haben, bleibt der Umgang in der kuratorischen Praxis häufig dann sehr starr und klischeehaft, wenn es nicht um das von Lyotard zynisch als „ihr Dada“ bezeichnete abstrakte Globale geht, sondern um die Schäbigkeiten und Untiefen der Diversität vor Ort.

Für die meisten Personen haben Ethnizität und Herkunft zweifellos Bedeutung, doch finden sie ihren Platz in einem individuellen Referenzrahmen. Insofern muss die kuratorische Praxis mit einer komplizierten Mischung aus subjektiven, kollektiven und über global zugängliche Medien zirkulierenden Narrativen arbeiten. In dieser Gemengelage ist nicht nur Identität ein falscher Ansatzpunkt, selbst die Identifikation fällt schwer. Das hat Stuart Hall bereits 1991 in seiner Interpretation des Films „Mein wunderbarer Waschsalon“ von Hanif Kureishi und Stephen Frears angesprochen: „This is a text that nobody likes. Everybody hates it. You go to it looking for what are called “positive images” and there are none. There aren’t any positive images like that with whom one can, in a simple way, identify. (…) It has a politics which is grounded on the complexity of identifications which are at work.[6] 2008 hat der australische Schriftsteller Christos Tsiolkas ein erfolgreiches Buch mit dem Titel „The Slap“ herausgebracht.[7] Dieses Buch knüpft an die Worte Halls an und hat die Komplexität der Zugänge gewissermaßen auf den aktuellen Stand gebracht. Das öffentliche Ohrfeigen eines Kindes auf einer Party setzt ein konfligierendes Feld von Interpretationen und Bewertungen in Gang, in der alle Personen auf unterschiedliche Ressourcen, Geschichten und Referenzen zurückgreifen. Für die Leser sind einfache Identifikationen praktisch nicht möglich, während ganz deutlich wird, wie kompliziert und schwer kalkulierbar sich aktuell die Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft zeigen.

Wie lassen sich die Bezugspunkte von Kulturproduktion neu justieren? Ivo Kuyl von der Koninklijke Vlaamse Schouwburg (KVS) hat kürzlich beschrieben, wie das Theater sein eigenes Umfeld sorgfältig analysiert hat und daraufhin seine Referenz aktiv verlagert hat weg von der Nation hin zu etwas wie „Urbanität“.[8] Im Begriff der Urbanität kommen die aktuellen Verflechtungen zusammen – und die Bezeichnung taugt keineswegs nur für die großen Städte. Im 2008 eröffneten Theater Ballhaus Naunynstrasse in Berlin wiederum bezeichnet man die eigenen Produktionen als „postmigrantisch“. Dieser Begriff hat als weiterer Bezugspunkt neben Urbanität einen erheblichen Reiz. Postmigrantisch bedeutet, dass die Wanderung immer schon stattgefunden hat – „post-The-Other“ – und jedwede kulturelle Artikulation selbstverständlich deren Konsequenz ist, ein Knotenpunkt transnationaler Verbindungslinien. Zudem wird mit der Bezeichnung postmigrantisch auch ein kontinentaleuropäischer Bezugspunkt über den Rahmen des „Postkolonialismus“ hinaus geschaffen: In Sachen Vielheit geht es in Deutschland und in vielen Teilen Europas nur begrenzt um das Wiederauftauchen der kolonialen Subjekte im Prozess der Migration, sondern um eine verwickelte Geschichte von Eroberungsstreben, Einflusszonen, Halbabhängigkeiten, Bevölkerungsverschiebungen und Vertreibungen.

Postmigrantische Urbanität

Dieses neue Koordinatensystem bildet die Normalität der Vielheit ab. Aber was bedeutet postmigrantische Urbanität konkret? Zweifellos waren die Städte immer schon Orte des Transits, Knotenpunkte in einem internationalen Gewebe – neu erscheint die Situation wohl nur vor dem Hintergrund der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen der Akzent stark auf einer berechenbaren Sesshaftigkeit lag. Nun gibt es eine zunehmende Anzahl von Personen, deren Status aus unterschiedlichen politisch-ökonomischen Gründen nicht eindeutig festzulegen ist. Heute leben in den Städten „Ausländer“ mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von fast 19 Jahren; „Pendler“, die im Durchschnitt für ein halbes Jahr bleiben; „Geduldete“, deren Aufenthaltsperspektive nach einem Jahrzehnt immer noch bei einem halben Jahr liegt; „Papierlose“, die als Touristen eingereist sind und deren Existenz von der offiziellen Statistik ganz geleugnet wird. Man findet zahlreiche Studenten aus anderen Ländern, die eine bestimmte Zeit in der Stadt bleiben, „Expatriates“ jeglicher Couleur, die wegen Arbeit, Liebe oder einer neuen Lebensperspektive in die betreffende Stadt gezogen sind, Zweitwohnungsbesitzer, deren Familie in einer anderen Stadt lebt oder auch Touristen, die mit ihren wiederholten Wochenendtrips und ihrem Szenewissen auf eine noch nie dagewesene Weise ins Gewebe der Stadt eindringen.

Diese Personengruppen stellen sämtlich eine „anwesende Abwesenheit“ dar – sie sind da, aber gleichzeitig auch noch an einem anderen Ort. Diese neue Uneindeutigkeit hat die geographischen Verhältnisse von Nähe und Ferne, aber auch von Nachbarschaft völlig verändert. So existieren in der Stadt Räume, die bei ihrer Aktivität nur noch lose mit ihrer direkten Umgebung korrespondieren. In den Niederlassungen transnationaler Unternehmen ist die Umgangssprache Englisch, der Kommunikationsraum global und die Mitarbeiter stammen aus vielen verschiedenen Ländern und werden vielleicht schon bald an einen anderen Ort versetzt. Diesen mobilisierten Räumen innerhalb der Stadt entsprechen solche außerhalb, die geographisch weit entfernt liegen und dennoch eher wie eine Nachbarschaft funktionieren. Viele Arbeitsmigranten, die ursprünglich nur für „ein, zwei Jahre“ ins Ausland gehen wollten und sich schließlich doch ansiedelten, haben gleichzeitig in ihrem Herkunftsland Häuser gebaut oder Wohneigentum erworben – ohne zurückzukehren.

So existieren etwa in Marokko, ganze Stadtviertel, die sich im Sommer mit Auswandern füllen. Selbst wenn Einwanderer keine Immobilien in ihrem Herkunftsland haben, bewohnen sie einen familiären Raum, der Netzwerke über die nationalen Grenzen hinweg spannt. In ähnlicher, aber zugleich ganz anderer Weise haben Touristen und „Rentenauswanderer“ in großer Zahl an der europäischen Sonnenperipherie, etwa in Spanien, Häuser oder Wohnungen erworben. Sie bewohnen dort Siedlungen, die veritable „Parallelgesellschaften“ darstellen und die mit ihrer physischen Nachbarschaft wiederum nur sehr lose Verbindungen aufweisen. Es handelt sich eher um unsichtbare Vororte westeuropäischer Städte.

Hinzu kommt der erwähnte „postmigrantische“ demographische Wandel. Die Bundesrepublik Deutschland hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern bis 1998 der Fiktion eines homogenen Nationalstaates angehangen. Doch spätestens seitdem das statistische Bundsamt das Kriterium des „Migrationshintergrundes“ erhebt, ist zu Bewußtsein gekommen, dass in allen deutschen Städten bei den Unter-sechsjährigen die Kinder mit Migrationshintergrund in der Mehrheit sind. In Frankfurt am Main haben aktuell 67 Prozent jener Altergruppe mindestens ein Elternteil, das selbst noch in die Bundesrepublik eingewandert ist. Zudem haben sich die Muster der aktuellen Migration verändert: Die Einwanderer stammen längst nicht mehr aus der vertragsgemäßen Anwerbung von Arbeitskräften für die unteren Jobsegmente, sondern Migration findet aktuell schwer kontrollierbar auf allen Ebenen des Arbeitsmarktes mit sehr unterschiedlichen Zeithorizonten statt.

Turbulenzen im nationalen Behälter

Die postmigrantische Stadt ist eine vielgliedrige „Parapolis“ geworden.[9] Das Wort bezeichnet die uneindeutige, quasi illegitime „para“-Version der Polis. Zudem verbirgt sich darin das neugriechische Adjektiv „para poli“, was „sehr viel“ heißt: Man könnte also von einem Ort des „sehr viel“, der Fülle (abundance) sprechen. Für die Kultur der Parapolis braucht es einen Blick, der sich von jener „in-between-awareness“ leiten lässt, die der Architekt Aldo van Eyck definiert hat als ein Sensorium für Schwellen, Bewegung und Ambivalenzen.10 Alle Gestaltungsansätze müssen von der „Vielheit“ der Bevölkerung im urbanen Raum ausgehen, was eine programmatische Verpflichtung vor allem des institutionellen Sektors auf Interkultur bedeutet. Allerdings darf ein „Programm Interkultur“ nicht die Fehler des Multikulturalismus wiederholen und sich auf die Förderung von Identität einlassen. Es geht um gemeinsame Veränderung, um die Schaffung eines neuen interkulturellen Raumes.

Diese Veränderung stellt auch die Autorität der Kunstschaffenden und der Kunstinstitutionen nachhaltig in Frage. Das aktuelle Interesse an Praktiken der Komplizenschaft und der Kollaboration in der Kunst[11]hat mit der Notwendigkeit einer „dialogischen Ästhetik“ (Grant H. Kestert[12] zu tun, die permanent mit der Vielheit verhandelt. In der erwähnten Untersuchung der „Tate“ wird festgestellt, dass das Museum „a highly limited and restricted knowledge of its audiences“ besitzt.[13] In der Parapolis lässt sich dieses Wissen aber nur dann erwerben, wenn man bereit ist, mit dem Publikum zu kooperieren. Kunst kann als Art und Weise begriffen werden, einen Raum zu schaffen, der als Plattform und Labor für unkonventionelles Denken und Gestalten in kollaborativen Formen dient. In diesem Fall steht der Prozess vor dem Ergebnis. Dieses Experimentieren kann wiederum Rückwirkungen haben auf das Verständnis von Gemeinschaft. Denn obwohl der Nationalstaat schwer unter Druck steht, wird er auf absehbare Zeit kaum verschwinden. Daher ist es nicht möglich, etwa das eigene „Deutsch-sein“ schlicht zu negieren. Paradoxerweise braucht es einen pragmatischen, inklusiven, transnationalen Begriff von nationaler Zugehörigkeit. Dazu kann eine Kunst mit einer „cosmopolitan imagination“[14] beitragen.

Die Konzeption des deutschen Pavillons in diesem Jahr versucht diese Paradoxie zu entfalten. Der nationale Behälter zieht aus sich selbst aus in einen anderen nationalen Behälter, auch um zu demonstrieren, dass sich die Turbulenzen des Nationalprinzips in den verschiedenen Ländern gleichen. Und der nationale Behälter erhält eine neue Füllung, die „Deutschland“ als Kreuzungspunkt grenzüberschreitender Verbindungslinien gerecht wird. Die ausgestellten Künstler verbindet zunächst einmal nicht mehr als die Tatsache, dass sie in Deutschland gearbeitet haben. Sie gehören damit zu „unserem“ Raum der anwesenden Abwesenheiten. Zusammen bilden ihre Arbeiten und Arbeitsweisen eine Art Tableau der oben beschriebenen Kompliziertheit der Parapolis, jener Verwirrung der Verhältnisse von Nähe und Ferne sowie den Schwierigkeiten der Identifikation. Dayanita Singh zeigt in ihrem Ansatz des „Go Away Closer“ eine internationalisierte Privatheit, die das für Europäer scheinbar weit entfernte indische Familienleben sehr vertraut erscheinen lässt und gleichzeitig immer ferner, je genauer man hinschaut. Santu Mofokengs dokumentarischer Ansatz ist ebenfalls geprägt von einer verstörenden Mischung aus Distanz und Anteilnahme. Dieser Ansatz, der die Kamera, das Medium spürbar werden lässt, ist für die Bewohner des Westens nachvollziehbar, wenn etwa französische Truppen in Mali militärisch „intervenieren“. Der Ort des Geschehens ist unerreichbar und doch präsent und verlangt Beteiligung.

Die Figuren, für die sich Romuald Karmakar interessiert, sind zumeist Täter: Krieger, Tyrannen, Mörder, Völkermörder, Hassprediger. Anstatt sich einer allgegenwärtigen „Kultur der Wunde“ (Mark Seltzer)[15] zu widmen, den Traumata der Opfer, befasst sich Karmakar ohne moralische Fingerzeige anhand von höchst unangenehmen Beispielen mit der Frage der Verantwortung. Karmakar rückt wiederum das scheinbar Ferne in die eigene Nähe und lässt doch wieder Distanz entstehen. Ai Weiwei schließlich spielt mit der Zugehörigkeit: ist er nun Bestandteil „unseres“ Kunstbetriebes oder nicht? Er entweicht der Modernität ebenso wie der Tradition und stellt dabei beides in Frage. Die Künstler haben gemeinsam, dass sie die „normalen“ Beziehungen von Nähe und Ferne neu justieren, seltsame Nachbarschaften etablieren und einfache Identifikation verhindern. Homi Bhabha hat „Hybridität“ beschrieben als ein „Subjekt der Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist“ bzw. weniger als eins und zugleich doppelt.[16] Diese paradoxe Version von „Hybridität“ bevölkert heute den nationalen Behälter, der wiederum nicht mehr „bei sich“ ist.

Kinetische Kultur

Die Kultur und Kunst der Parapolis handelt von unklassifizierbaren Erfahrungen. In den letzten Jahrzehnten ist die Frage der Vielheit in der Kunst häufig unter dem Aspekt des „Postkolonialen“ verhandelt worden: als Kritik der Repräsentationen zumeist von schwarzer „Identität“ und als Anspruch auf Anerkennung. Im Paradigma des Postmigrantischen aber sind andere Ansatzpunkte und Referenzen notwendig. Erstaunlicherweise ist eine Bewegung wie etwa die „Kinetische Kunst“ nahezu dem Vergessen anheim gefallen, obwohl gerade dieser Zusammenhang als interessanter Referenzpunkt für die derzeitigen Veränderungen dienen konnte. Die beteiligten Künstler wie etwa David Medalla, Jesus Rafael Soto, Carlos Cruz-Diez, Lygia Clark, Hélio Oiticica, Yaacov Agam, Panajotis Vassilakis (Takis), Liliane Lijn, Jean Tinguely oder Gianni Colombo waren zumeist Migranten oder stammten aus den Randgebieten des „internationalen“ Kunstgeschehens: Philippinen, Venezuela, Brasilien, Israel, aber auch Griechenland, Belgien, Schweiz und Italien. Die Geschichten dieser Künstler sind schwer einzuordnen. In seiner Autobiographie hat Takis in diesem Sinne geschrieben: „à huit ans, je cessai d’appartenir à une classe bien définie. Ni bourgeois, ni paysan, ni aristocrate. C ́était ma destinée, la mienne et celle des miens“.[17]

Die Beteiligten waren zumeist keineswegs unterprivilegiert, erlebten aber enorme Brüche in der Kontinuität der Erfahrungen durch die Migration sowie Episoden von Armut, Statusproblemen, Marginalisierung, Rassismus etc. Viele dieser Künstler haben eine Kunst produziert, die sich von den traditionellen visuellen Objekten entfernte ebenso wie von der Idee eines Künstlersubjektes, das aus sich heraus Bedeutung schafft. Der Prozess stand ebenso im Vordergrund wie eine demokratische Aktivierung des klassisch passiven Publikums. In der optimistischen Suche nach einer abstrakten, nicht-repräsentativen „language of movement“ (Guy Brett)[18] spielten Fragen der „Identität“ eben keine Rolle. Allerdings existierte eine Sensibilität für plurale Kontexte und eine selbstverständliche Art, die Grenzen der Form zu überschreiten, möglicherweise basierend auf einer biographisch geprägten Abwesenheit von Reinheitsvorstellungen. All diese Charakteristika galten keineswegs als revolutionär, sondern bildeten schon damals eine neue Normalität ab.[19]

Zweifellos hat die Migration bzw. die Mobilität eine enorme Wirkung auf die Kulturproduktion gehabt. Der Architekt und Musiker Iannis Xenakis, dem die nostalgische Rückbesinnung auf ein verlorenes ‚Zuhause’ fremd war, hat Migration als Antidot für die ‚Falle der Erinnerung’ beschrieben: „C ́est à dire qu ́il faut cultiver constamment le regard neuf. C ́est à dire la distanciation. Il faut être constamment un immigré. Dans tout. Alors lá, on voit les choses d ́un oeil beaucoup plus frais, beaucoup plus augu, et beaucoup plus profond. Parce qu ́on n ́est pas rassuré par l ́environnement dans lequel on se trouve, dans lequel on baigne. Sinon, on le voit plus. Ce sont des meubles. Tout devient mobilier.“[20] Nun soll dieses Zitat keinewegs einer vulgär-postmodernen Idee von Nomadentum das Wort geredet werden. An Xenakis Geschichte gibt es nicht viel zu romantisieren. Er war kein privilegierter „Expatriate“, er hatte in Griechenland als Kämpfer beim kommunistischen Widerstand nahezu tödliche Verletzungen davongetragen, er kam auf einem Frachter nach Frankreich und hat dort jahrelang als ‚Staatenloser’ ohne Pass gelebt. Doch angesichts einer Gesellschaft in Bewegung sind ohne Zweifel jene Erfahrungen relevant, die nicht das ‚Baden‘ in der angeblich ‚eigenen‘ Kultur, sondern vielmehr eine Kinesis des Kulturellen als universelle Grundlage ansprechen.

Tatsächlich gehören die Bewegung und das Suchen zu den Ursprungsmyten der westlichen Gesellschaft. Bekanntlich gilt die Odyssee als einer jener Texte, in denen zum ersten Mal so etwas aufscheint wie die westliche Idee von der Freiheit des Individuums. Während die Personen in der Ilias, von Achill vielleicht abgesehen, eher holzschnittartig handeln und zumeist Spielball der Intrigen und Einflüsterungen der Götter sind, muss die Hauptfigur der Odyssee zumeist allein entscheiden. Tatsächlich ist das auch ein anderer Odysseus – der Protagonist der Odyssee behilft sich mit Geduld, Flexibilität und List, während jener der Ilias in erster Linie skrupellos Gewalt anwendet. In der Odyssee ist er auch nicht auf einem Eroberungsfeldzug, sondern wie die Argonauten auf einem nicht enden wollenden Rückweg nach Hause. Als er schließlich Ithaka erreicht, findet eine erneute Wandlung statt – und die Gewalt kehrt zurück. Bei seiner Frau begegnet er den Freiern, die ihn tot wähnen und durch Heirat mit Penelope an seiner Stelle König werden wollen. Und unter diesen Freiern richtet er schließlich ein grauenhaftes Gemetzel an.
Entgegen der allgemeinen Annahme geht eben das ‚Zuhause-Sein’ mit Gewalt einher – mit der Gewalt der Expansion auf der einen Seite und mit der Gewalt der inneren Säuberung auf der anderen. Das bedeutet, dass es die viel beschworene Identität ist, deren Herstellung zwangsläufig Akte der gewalttätigen Setzung erfordert. Die sogenannte Identität ist keineswegs etwas, das der Mensch als Individuum oder organisiert in einer Gruppe quasi anthropologisch zum Leben benötigt, sondern vielmehr eine gefräßig-monströse Konstruktion, die nach Einverleibung giert. Allerdings geht die Zurückweisung des Konzeptes Identität keineswegs mit der Behauptung einher, dass die menschliche Existenz gänzlich ohne Vorstellung von Zuhause auskommen kann. Die Zivilität ergibt sich aus einer Suche nach Zuhause, in der permanenten Annäherung. Alle müssen, wie Xenakis meinte, gänzlich unromantisch immer Einwanderer sein. Die in der Odyssee formulierte Idee von Freiheit ist nur in der Bewegung zu denken; die Bewegung ist eben nicht etwa eine Abweichung von der Sesshaftigkeit, sondern einerseits Normalzustand und andererseits notwendige Voraussetzung von Subjektivität. Der Weg führt keineswegs normativ von den vielfältigen kindlichen Identifizierungen zur erwachsenen Identität, sondern auf der Suche bleibt die Multiplizität der Identifizierungen erhalten. Die Ambivalenz der Subjektivität ist unhintergehbar und entspricht wiederum der Normalität des Lebens in der vielgliedrigen Parapolis. Und die Kunst kann ein Laboratorium sein, um die Formen des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft auszuhandeln, in der wir bei aller Verschiedenheit vor allem eines gemeinsam haben: unsere Zukunft.

 

 

 

1 Homi Bhabha: Editor’s introduction: Minority maneuvres and unsettled negotiations, in: Critical Inquiry 23 (Spring 1997), S. 433.

2 Jean-François Lyotard: Marie in Japan, in: Postmoderne Moralitäten., Wien: Passagen 1998, S. 15.

3 Vgl. Jens Schneider: Deutsch-Sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main 2001.

4 Vgl. Andrew Dewney, David Dibosa & Victoria Walsh: Britishness and visual culture, London: Tate Encounters 2011.

5 Ebd., S.26.

6 Stuart Hall: Old and new ethnicities, in: Anthony D. Kind (Ed.): Culture, globalization and the world-system, Basingstoke: Palgrave McMillan 1991, S.60.

7 Christos Tsiolkas: The Slap, Crows Nest: Allen & Unwin Pty 2008.

8 Vgl. Ivo Kuyl: Theater zwischen Stadt und Welt: Ein Beispiel aus Brüssel, https://www.dramaturgische- gesellschaft.de/wordpress/wp-content/themes/paalam/jahrestag.php?item=57, letzter Zugriff 05.02.2013.

9 Vgl. Tom Holert & Mark Terkessidis: Fliehkraft – Gesellschaft in Bewegung. von Migranten und Touristen, Köln 2006.

10 Vgl. Aldo van Eyck: The child, the city, the artist. An essay on architecture. The in-between realm, in: Ders.: Writings. The Child, the City and the Artist. Collected Articles and Other Writings 1947-1998, Amsterdam: Sun Publishers 2008, S. 53 ff.

11 vgl. Claire Bishop: Artificial hells. Participatory art and the politics of spectatorship, London / New York: Verso 2012.

12 Vgl. Grant H. Kester: Conversation Pieces. Community and Communication in Modern Art, Berkeley: University of California Press 2004; und Ders.: The one and the many. Contemporary collaborative art in a global context, Durham and Lodon: Duke University Press 2011.

13 Andrew Dewney et al., op cit., S.16.

14 Vgl. Marsha Meskimmon: Contemporary art and the cosmopolitan imagination, London and New York: Routledge 2011.

15 Vgl. Seltzer, Mark, Wound Culture: Trauma in Pathological Public Sphere, in: October 80, Sping 1997.

16 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Satuffenburg 2000, S. 126ff.

17 Autobiographie et pensées de TAKIS, Paris: Art Inprogress éditions 2007, S.17.

18 Vgl. Guy Brett: Kinetic art. The language of movement, London: Studio Vista 1968.

19 Vgl. Mark Terkessidis: Kinetische Kultur. Über die höchst universalisierbaren und überraschend aktuellen Erfahrungen einiger griechischer Schiffsreisender in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Kritische Berichte, Jg. 368, Nr. 4, 2011.

20 François Delalande, Il faut être constamment un immigré. Entretiens avec Xenakis, Paris 1997, S. 123

 

 

Mark Terkessidis ist Journalist und Autor mit Schwerpunkt Popkultur, Rassismus und Migration und hat 2010 in seinem gleichnamigen Buch den Begriff „Interkultur“ neu definiert. Seinen Text Nationale Turbulenzen. Unromantische Betrachtungen über postmigrantische Urbanität und Kunstproduktion finden Sie im Vorwort der offiziellen Begleitpublikation zum Beitrag des deutschen Pavillons auf der Biennale di Venezia 2013.

 

 

 

 

 

 

 

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